Ein Fachartikel der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft bestätigt die positive Wirkung von Tai Chi für unsere geistige Gesundheit.
Hier ein kleiner Ausschnitt:
An der Universität Peking beobachtete 2019 ein Forschungsteam unter der Leitung von Heng-Chan Yin, wie sich acht Wochen Tai-Chi-Training auf das Gehirn auswirkten. Die Versuchspersonen trainierten dazu dreimal pro Woche 50 Minuten. Ergebnis: Die Menge an grauer Substanz nahm zu – also die Anzahl der Neurone und die Dichte der Verbindungen zwischen benachbarten Neuronen, und zwar in mehreren Hirnregionen, weit verteilt über alle vier Hirnlappen.
Die Zunahme der grauen Substanz in diesen Arealen ist aufschlussreich, weil sie alle bestimmte Funktionen erfüllen. So sind zwei Hirnwindungen daran beteiligt, Erinnerungen wie den Namen eines alten Klassenkameraden abzurufen, und eine weitere am episodischen Gedächtnis, das Ereignisse wie einen Urlaub speichert. In der vierten Windung regt sich vor allem dann Aktivität, wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen: ihre Gefühle, Absichten und Standpunkte. Und die fünfte Region, der Praecuneus im oberen Scheitellappen, ist Teil des Ruhezustandsnetzwerks (Default Mode Network), das zum Beispiel dann aktiv ist, wenn wir gedanklich abschweifen, kreativ sind oder uns die Zukunft vorstellen.
Die Studie aus Peking ergab außerdem, dass sich die Verbindung zwischen Teilen des Stirn- und des Scheitellappens (Gyrus frontalis medius und Lobulus parietalis superior) verstärkte. Das ist gut für die kognitive Kontrolle: die Fähigkeit, Handlungen zu planen, Impulse zu kontrollieren und Strategien anzupassen. Die Verbindungen zwischen den Hirnarealen sind entscheidend für deren koordinierte Zusammenarbeit; sie bilden die weiße Substanz. Dass deren Dichte dank Tai-Chi-Training steigt, bestätigte 2020 auch ein Team von der Universität Suzhou in China, das Frauen Anfang 60 untersucht hatte.
Ein Jahr regelmäßiges Tai-Chi-Training erhöht das Hirnvolumen um ein Prozent
Schon 2012 zeigte eine gemeinsame Forschungsgruppe aus China und den USA: Nach einem knappen Jahr regelmäßigen Tai-Chi-Trainings – dreimal 50 Minuten pro Woche – war das Hirnvolumen insgesamt um ein Prozent gewachsen. Die Zunahme an grauer Substanz passt auch zu weiteren Beobachtungen. Bei Personen, die drei Monate täglich eine Stunde Tai-Chi praktizierten, besserte sich das Gedächtnis, wie 2017 eine Studie der chinesischen Fujian-Universität in Fuzhou feststellte. Und an der Universität Taipeh in Taiwan beobachtete man 2016, dass die geistige Flexibilität stieg. Gemessen wurde das mit einem Test, in dessen Verlauf sich die Vorgaben für eine einfache Aufgabe am Computer änderten.
Nachgewiesen ist auch, dass Tai-Chi das Konzentrationsvermögen und die kognitive Kontrolle fördert, also die Unterdrückung einer automatischen Reaktion. Erfasst wird das mit dem so genannten Stroop-Test: Auf einem Bildschirm erscheinen Wörter für Farben wie »Blau« oder »Rot«, wobei das Wort selbst in blauer oder roter Farbe geschrieben sein kann, aber ebenso in Grün oder Gelb. Die Versuchsperson soll nun nicht das Wort vorlesen, sondern die Farbe nennen, in der das Wort abgebildet ist. Wer lesen kann, neigt allerdings dazu, das Wort vorzulesen, und muss diese automatische Reaktion unterdrücken. Das führt zu einer längeren Reaktionszeit. Nach mehreren Monaten Tai-Chi gelingt die richtige Antwort schneller – ein Hinweis auf eine gestärkte kognitive Kontrolle.
Wie dieser Effekt zu Stande kommt, ist noch nicht klar. Dazu beitragen könnte die geistige Anstrengung, die es erfordert, sich sehr langsam und kontrolliert zu bewegen, teils erst in die eine Richtung und dann in die Gegenrichtung, wie es beim Tai-Chi üblich ist.
Die Bandbreite der kognitiven Effekte ist groß. 2010 fasste die Boston Medical School Ergebnisse von 40 Studien mit insgesamt knapp 4000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammen. Demnach mindert Tai-Chi auch die Symptome von Angstzuständen, Depressionen und Stimmungsschwankungen und steigert zugleich das Selbstwertgefühl.
Für ein regelmäßiges Training fehlen allerdings vielen Menschen die Zeit und die Bereitschaft. Die Motivation steigt, wenn Bekannte, Kollegen oder Freunde mitmachen. Es lohnt sich für alle. Und es ist nie zu früh – und auch nicht zu spät –, mit dem Training anzufangen.
Der ganze Artikel aus dem Spektrum der Wissenschaft: Tai-Chi: Hirntraining aus dem fernen Osten - Spektrum der Wissenschaft